Buchbesprechung: Herbert Thomas Mandl

 

Rheinische Post vom 21. August 1995

 

Herbert Thomas Mandl

Von Norbert Stirken

In diesem Zeitungsbericht stellte Norbert Stirken von der Rheinischen Post erstmals das ungewönliche Leben unseres Autors einer breiten Öffentlichkeit vor. Der Autor und der Verlag danken dem Journalisten für sein persönliches Engagement.



Inhalt:

 

Der in Meerbusch-Büderich lebende Herbert Thomas Mandl wurde 1945 zum Tode durch Erschießen verurteilt. Die Exekution fand jedoch nicht statt, weil ein SS-Mann den Befehl nicht ausführte. Der Überlebende der KZs in Theresienstadt, Auschwitz und Dachau sowie spätere Professor für Musik in Ostrau arbeitete nach seiner Flucht vor dem Staatssicherheitsdienst der CSSR als Privatsekretär von Heinrich Böll. Der Literatur-Nobelpreisträger betätigte sich als Fluchthelfer undholte Mandls Frau klammheimlich in den Westen.



 

Herbert Thomas Mandl
Stationen seines Lebens

1926 geboren im slowakischen Preßburg
1930 Umzug nach Ostrau
1936 Umzug nach Brünn
März 1942 bis September 1944 KZ Theresienstadt, anschließend KZ Auschwitz und Dachau-Kaufering
1945 Abitur in Brünn, anschließend Studium
1948 Frau Jaroslava kennengelernt, 1953 geheiratet
1950 Konservatorium mit Brahmskonzert Geige und Klavier abgeschlossen
1954 Professur am Konservatorium Ostrau
1960 Flucht über Ägypten, Griechenland, Süddeutschland nach Köln
1961 Privatsekretär Heinrich Bölls
1962 Korrespondent Deutsche Welle
1963 Auswanderung nach Amerika
Kurze Zeit später bis 1968 wieder in Deutschland
1968 bis 1971 in USA in einer Nervenheilanstalt tätig
1971 Englischlehrer am katholischen Abendgymnasium in Neuss
Seit 1988 Rentner, Autor, Übersetzer



 

Überlebender von Theresienstadt, Auschwitz und Dachau bekam nach fast 50 Jahren Promotionsurkunde
Mandl nun offiziell Doktor der Philosophie

Mit fast einem halben Jahrhundert Verspätung bekam Thomas Herbert Mandl nun seine Promotionsurkunde der Universität Brünn zum Doktor der Philosophie ausgehändigt. Der frühere KZ-Insasse der Lager Theresienstadt, Auschwitz und Dachau mußte nach seiner Befreiung vom Nazi-Terror durch die Amerikaner später auf abenteuerlichen Wegen vor den Kommunisten in der Tschechoslowakei flüchten.

Ludomir Selinger, ein alter Bekannter Mandls und Herausgeber der mit der Rheinischen Post verbundenen tschechischen Tageszeitung Rovnost (Gleichheit), trat in den vergangenen Wochen als Vermittler auf und veranlaßte in Brünn, das Versäumnis aus Zeiten des kommunistischen Umsturzes nachzuholen. RP-Redakteur Norbert Stirken konnte die offizielle Übergabe in Mandls Wohnung in Meerbusch-Büderich vornehmen.
Der heute 69 Jahre alte jüdische Tscheche Mandl kam 1945 als Überlebender des Konzentrationslagers Dachau-Kaufering VII ins Krankenhaus Bad Wörishofen. Der dortige Chefarzt, den die Amerikaner, so Mandl, aus irgendeinem Gestapokeller herausgeholt hatten, sagte ihm den Tod binnen einer Woche voraus. Doch der Lebenswille des leidenschaftlichen Rauchers und Kaffeegenießers war stärker. Illegal reiste er in die Tschechoslowakei ein, anbei seine »Kriegsbeute«, die er aus einer brennenden SS-Barracke genommen hatte: Mit dem Liebesroman »Madelain« und der »Einführung in die Philosophie Hegels« im Gepäck kam er in Brünn an und traf seine Mutter wieder. Nach einem Schnellkursus legte Mandl dann sein Abitur ab. Anschließend schrieb er sich beim Staatlichen Konservatorium und an der Universität ein. Mandl, der von 1942 bis 1944 im berühmten Sinfonieorchester des Lagers Theresienstadt Violine spielte, absolvierte am Konservatorium eine Aufnahmeprüfung als Geiger. »Die Theorie habe ich im KZ gegen eine Scheibe Brot vom blinden Komponisten Hans Neumeyer vermittelt bekommen«, sagt Mandl. Neumeyer habe zuvor in München Akustik für Musiker gelehrt. An der Uni belegte der angehende Violinist die Fächer Philosophie, Psychologie und Anglistik.
Diese Doppelbelastung war für die Gesundheit des angeschlagenen jungen Mannes verheerend. Die Umstände im Land machten ihm auch seelisch zu schaffen. Zuerst die Gewißheit, daß nach den Nazis auch die Regierung der Nationalen Front entsetzlich unterernährte Menschen in Internierungslagern festsetzte, dann der kommunistische Staatsstreich im Februar 1948, der das »Land in wenigen Wochen in eine Kulturwüste verwandelte«. Ihm und seiner Frau, die er am Konservatorium kennengelernt hatte, fehlte alsbald die Luft, um frei leben und denken zu können. Beide, Thomas Herbert Mandl und Jaroslava Mandlová, machten ihren Abschluß – er als Geiger, sie als Pianistin – und erhielten eine Professur am staatlichen Konservatorium in Ostrau. Jaroslava »Slavi« Mandlová überstand die bald einsetzenden »Säuberungsaktionen« des Regimes nicht und mußte den Lehrstuhl wieder räumen. Gedanken der Flucht reiften.



 

SS-Posten weigerte sich, Exekution auszuführen
Geiger im berühmten KZ-Streichorchester

Er wollte Musiker sein. Deshalb gab der Jude Thomas Herbert Mandl seinen privilegierten Verwaltungsposten im Konzentrationslager Theresienstadt freiwillig auf, um im sogenannten Caféhausorchester Geige spielen zu können. Gleichzeitig gehörte er dem berühmten, symphonischen KZ-Streichorchester unter der Leitung des Dirigenten Karel Ancerl an, dem späteren Chef der tschechischen Philharmonie. »Eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes (IRK) hatte sich zur Besichtigung des Lagers angesagt«, erklärt Mandl, weshalb in Theiesienstadt »ein breiteres Kulturangebot vorhanden war als im Reich«.
Musikinstrumente waren zunächst verboten, so daß Mandl auf einer geliehenen, gleichsam illegalen Violine in einem Kartoffelschälraum üben mußte. Immer auf der Hut, weder von der SS noch von den tschechischen Gendarmen aufgespürt zu werden. Im Rahmen der »Stadtverschönerung« durch die Nazis, die den Zweck hatte, den Vertretern des IRK »eine heile Welt vorzugaukeln«, wurde ein Caféhaus gebaut. Es gab Eintrittskarten, die zu einem zweistündigen Aufenthalt berechtigten. Zusätzlich bekamen die Besucher und auch die Musiker eine Tasse Kaffeersatz, gesüßt mit einem Teelöffel echten Zuckers. »Das ging immer sehr korrekt zu«, erinnert sich Mandl.
Was vordergründig glänzte, habe sich beim Blick hinter die Kulissen als mörderische Kosmetik entpuppt. Um das Bild von einer vitalen »Stadt« zu schaffen, mußten tausende Alte und Kranke den Weg nach Auschwitz in die Gaskammer antreten. Die IRK-Delegation sei entlang frischgetünchter Fassaden durch einige Vorzeigestraßen geführt worden. Keiner der Insassen habe mit deren Mitgliedern reden dürfen, beschreibt Mandl, der zweieinhalb Jahre in Theresienstadt verbrachte, die aberwitzige Inspektion.
Jahrzehnte später beim Besuch einer Filmvorführung der Düsseldorfer Volkshochschule erkannte Mandls Frau Jaroslava auf dem Zelluloidstreifen ihren Mann. Die Propagandaabteilung der Nazis hatte unter dem Arbeitstitel »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt« die Opern und Orchesterkonzerte im Lager gefilmt. »Slavi erkannte mich, so daß ich jetzt ein berühmter Schauspieler bin«, bemerkt Mandl lächelnd, aber mit beißendem Zynismus. Fast schon belustigt erzählt er von einer weiteren Ironie des Schicksals: Sein Vater Daniel habe in Berlin bei der deutschen Firma AEG als Diplom-Ingenieur gearbeitet. Ende der 20er Jahre sei er von Skoda mit dem verlockenden Angebot, die Elektrifizierung der Slowakei zu übernehmen, abgeworben worden. Erst später habe sein Vater davon erfahren, daß die AEG ihn nach Südamerika habe schicken wollen und ihm und seiner Familie damit das ganze Greuel erspart geblieben wäre. Daniel Mandl starb in Dachau.
Thomas H. Mandl hat überlebt, obwohl der Lagerkommandant in Dachau-Kaufering IIl nach einem Fluchtversuch dessen Erschießung anordnete. Der mit der Exekution beauftragte SS-Posten weigerte sich und brachte ihn statt dessen heimlich in das Lager Dachau-Kaufering VII.



 

Inhaftiert in Ägypten und Griechenland – Verhört von der US-Spionageabwehr
Mit dem Decknamen Peter Schmidt in Frankfurt untergetaucht

Es hat micht überrascht, daß die von den Kommunisten verbotenen, das heißt die volksfremden Autoren und Künstler in den allermeisten Fällen identisch mit verbotenen Künstlern im Dritten Reich waren«, sagt Thomas Herbert Mandl. Schon 1948 nach dem Umsturz reifte deshalb sein Entschluß, die Tschechoslowakei zu verlassen. »In meiner Dummheit glaubte ich, auch 1950, nach meinem Abschluß am Konservatorium, noch ausreisen zu können.« Schließlich habe eine vertragliche Verpflichtung bestanden, nach der Juden nach Israel auswandern durften. Doch die Grenzen wurden hermetisch abgeriegelt. Bewerbungen um Arbeitsstellen in Indien und der Volksrepublik China blieben erfolglos. Mit seiner Frau Jaroslava diskutierte Mandl Fluchtpläne. Weil er gut Deutsch und Englisch sprach, sollte er vorangehen.
In einer 250 Personen starken Reisegruppe unternahm der damals 34jährige 1960 eine Urlaubsreise nach Ägypten. »Meine Frau mußte zurückbleiben, weil sie mich als Geisel vor sogenannten Dummheiten bewahren sollte«, sagt er. In Kairo angekommen, nutzte Mandl die erste Gelegenheit, um sich abzusetzen, und suchte die US-Botschaft auf. Die Amerikaner verwiesen ihn zur Ausstellung eines Passes an die ägyptischen Behörden, was ihm Angst einjagte. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen: Mandl mußte wie alle »unklaren Fälle« seinerzeit ins Gefängnis und danach ins Zuchthaus. Nach einigen Wochen wurde er in ein »Schweigelager« nach Griechenland ausgeflogen. Die amerikanische Dienststelle in Athen habe sich mit Mandls Fall überfordert gefühlt und ihn nach Wiesbaden geschickt, wo er von Mitarbeitern der amerikanischen Spionageabwehr empfangen worden sei. »Guten Abend, Herr Professor Mandl. Wir wissen, daß Sie ein bedeutender sowjetischer Spion sind, aber das stört uns nicht. Sie müssen uns bloß alles sagen«, erinnert sich Mandl an die Begrüßung. Unter dem Decknamen Peter Schmidt hätten die Amerikaner ihn wochenlang in einer konspirativen Zwei-Zimmer-Wohnung in Frankfurt verhört. »Peter wollte ich als Kind schon immer heißen, und Schmidt war ein Allerweltsname«, begründet Mandl seine Wahl.
Sein Freund Hans-Günther Adler kannte in der Mainmetropole den Chef der wissenschaftlichen Abteilung des amerikanischen Konsulats, Anton Kalvelli-Adorno – ein Vetter des bekannten Philosophen. Der sorgte dafür, daß dieses Intermezzo ein Ende fand. Mandl kam ins Durchgangslager Zirndorf bei Nürnberg. »Voreilig unterschrieb ich ein lückenhaftes Protokoll, wodurch ich alle Entschädigungsansprüche verlor«, bedauert Mandl. Die Zeit habe gedrängt und er wollte seine Frau aus der CSSR befreien. Noch heute fühlt sich der Wahl-Meerbuscher in Zirndorf unkorrekt behandelt.
Später, als Privatsekretär Heinrich Bölls, habe er die selben Typen wiedergetroffen, die er schon in Zirndorf als Agenten ausgemacht hatte. »Wenn Böll zum Beispiel mit sowjetischen Journalisten sprach, saßen neben ihnen Dolmetscher, denen die Buchstaben KGB in die Stirn gemeielt waren«, sagt Mandl.



 

Pianistin Jaroslava Mandlová aus der CSSR geholt
Familie Böll betätigte sich als Fluchthelfer

Der 26. Mai 1961 war für die Pianistin Jaroslava »Slavi« Mandlová, der Ehefrau Thomas Herbert Mandls, der Tag der Befreiung. Gemeinsam mit ihren Rettern Heinrich, Annemarie und Raimund Böll kam sie in deren Privatwagen, einem für die Flucht präparierten Citroën Diane, in Köln an und schloß ihren vor Aufregung zitternden Gatten nach Monaten der Trennung in die Arme.
Mandl lernte Böll 1961 nach einem Vorspielen beim kleinen Orchester des Westdeutschen Rundfunks kennen. Sein väterlicher Freund aus dem KZ Theresienstadt, Hans-Günther Adler, Autor verschiedener soziologischer und philosophischer Werke wie »Die verheimlichte Wahrheit« oder »Der verwaltete Mensch – Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland«, hatte sie miteinander bekannt gemacht. Böll habe angeboten, Mandl bei sich wohnen zu lassen. Im täglichen Miteinander vertraute der Untermieter dem Schriftsteller seinen Kummer und die Sorge an, wie er seine Frau aus der Tschechoslowakei über die Grenze in den freien Westen bringen könne. Die Pläne waren zwar schriftlich bis im Detail ausgearbeitet, aber wie sollte er Kontakt zu seiner »Slavi« aufnehmen, wem konnte er vertrauen?
Böll schlug vor, der Maler Reinhold Meier solle die Flucht durchführen. Doch da gab's ein Problem. Nicht-Prominente durften auch nicht mit dem eigenen Wagen ins Land einreisen. Der Zufall wollte es, daß Böll gerade zu der Zeit eine Einladung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes erhielt. Die Unterschrift »Eva« auf einer Glückwunschkarte zum Geburtstag Jaroslava Mandlovás war der vereinbarte Code, die Flucht stehe bevor. Annemarie Böll gab sich ihr mit einem auswendig gelernten Text in tschechisch zu erkennen. Ein Zauberkünstler half beim Ausbau des mit Schaumgummi ausgepolsterten Verstecks im grünen Citroen. Eine Ärztin gab Ratschläge und besorgte ein Mittel zur Beruhigung und gegen Husten. Mandls selbst mimte das Versuchskaninchen und bekam prompt Atemnot, weil er im engen Versteck unter Klaustrophobie litt. Dann war es soweit. Vollgestopft mit Medikamenten nahm Jaroslava in Bölls Auto Platz. Vorne saß das Ehepaar, im Fond Sohn Raimund, der 1982 an den Folgen einer Krebserkrankung starb.
»Die Grenzübertritte waren schrecklich«, erinnert sich Jaroslava. Das gesamte Gepäck mußte ausgeladen werden, das Fahrzeug wurde mit Spiegeln und Klopfen kontrolliert. Doch der »geheime Passagier« blieb unentdeckt. Der Weg in den Westen war frei.